Zwischen persönlichem Bekenntnis und strategischer Selbstverortung: Melonis Autobiografie zeigt, wie eine Außenseiterin zur tonangebenden Figur der italienischen Rechten wurde – trotz persönlicher Herausforderungen und mit klarer Linie.

Anna Paratore will abtreiben. Sie ist bereits Mutter einer Tochter und steckt in finanziellen Schwierigkeiten. Der Partner kümmert sich nicht um die Familie. Als sie neuerlich schwanger wird, raten ihr selbst Freundinnen ab: sie müsse verrückt sein, in der Situation ein zweites Kind zur Welt zu bringen. Doch die Sizilianerin ändert ihren Entschluss. Statt zum Termin geht sie in eine Bar, trinkt einen Kaffee und isst Brioche. Am 15. Januar 1977 kommt das Kind zur Welt. Um ein Haar wäre Giorgia Meloni nicht geboren worden.
Braucht es ein bestechenderes Argument gegen Abtreibung? Der Topos, dass Wissenschaftler, Ärzte, Ingenieure, Künstler und Staatsleute aufgrund des westlichen Verzichts auf „überflüssige Kinder“ der Welt verwehrt worden sind, hält sich seit Jahrzehnten. In Melonis Fall wird die Theorie greifbar. Ohne den sturen Willen einer sizilianischen Schriftstellerin wäre die jüngere italienische Geschichte anders verlaufen.
Als Meloni ihre Biografie im Mai 2021 veröffentlichte, schrieben italienische Medien, sie mache sich „nackt“. Geschichten wie diese gehören dazu. Es gibt noch zahlreiche andere persönliche Erzählungen, insbesondere im ersten Drittel des Buches „menschelt“ es schwer. Ihr Vater verlässt die Familie früh und verschwindet auf die Kanaren. Distanz und Desinteresse zeichnen das Verhältnis, als sie und ihre ältere Schwester Arianna ihn wiedersehen.
Der biografische Exhibitionismus hat politisches Fundament. Meloni – das gibt sie im Buch mehrfach direkt wie indirekt zu – hat immer das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Sie ist schüchtern, zurückgezogen, misstrauisch, ein „ernstes Kind“, wie alle sagen. Sie schützt ihre Privatsphäre und hat wenig Interesse an sozialen Interaktionen. Sie sagt selbst: „Ich war ein echter Steinbock.“ Strebsam, ein bisschen Nerd – und ein Tolkien-Fan ist die junge Italienerin, lange, bevor die Filme zum „Herrn der Ringe“ in die Kinos kommen.
Die biografischen Muster sind Vorlagen im politischen Kampf. Meloni verteidigt die traditionelle Ehe, obwohl der Vater sie verlassen hat. Sie muss sich nicht über unabhängige Frauen belehren lassen, besonders nicht über Quoten oder Gleichberechtigung – entstammt sie doch einer Frauen-Trias, die sich selbst durchs Leben schlagen musste. Und insbesondere muss sie sich als Mobbingopfer nichts über Diskriminierung erklären lassen.
Paratore und ihre beiden Töchter haben im wahrsten Sinne des Wortes vor dem Nichts gestanden, als die beiden Kinder beim buchstäblichen Spiel mit dem Feuer die Wohnung in Brand setzten. Selbstviktimisierung, wie sie das woke Milieu auszeichnet, ist Meloni fremd. Man schlägt sich durch.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Ich bin Giorgia“ war noch nicht klar, dass aus dem Mädchen aus dem römischen Arbeiterviertel Garbatella einmal die italienische Ministerpräsidentin werden würde. Dass die Regierung Draghi einige Monate später fallen und den Weg für Neuwahlen freimachen würde, bei denen die Chefin der „Fratelli d’Italia“ neue Regierungschefin würde – damals ein fernes, unwahrscheinliches Szenario.
Meloni dürfte aber bereits damals das Ziel verfolgt haben, angesichts des sinkenden Sterns von Lega-Chef Matteo Salvini sich nun selbst als Anführerin des rechten Lagers zu inszenieren. Das Buch arbeitet am eigenen Mythos. Meloni hat daher mit Absicht den Titel gewählt, der auf eine ihrer viral gehenden Reden anspielt: Ich bin Giorgia, ich bin eine Frau, ich bin eine Mutter, ich bin Italienerin, ich bin Christin. An diesem Leitfaden orientiert sich auch die Biografie.
Für den Leser, den eher die politischen als die persönlichen Hintergründe interessieren, dürfte insbesondere die Jugendzeit beim Movimento Sociale Italiano (MSI) spannend sein, sowie das letzte Drittel, in dem Meloni ihre ideologischen und politischen Überzeugungen darlegt. In der Jugendfront des MSI schlägt der zierlichen Römer kein Frauenhass entgegen, auch kein Sexismus. Vielmehr findet sie hier die Gemeinschaft, die sie außerhalb der weiblichen Kleinfamilie nicht gefunden hat.
An der Stelle erzählt sie dann auch von jener Szene, die in rechten deutschen Kreisen immer wieder kolportiert wird, und ihr eine angebliche Deutschfeindlichkeit unterstellt. In ihrer Abiturprüfung wird sie von linken Prüfern drangsaliert. Sie ersetzen die mündliche Prüfung von Italienisch auf Deutsch. Ausgerechnet Thomas Mann, der schon für Muttersprachler eine Herausforderung darstellt, soll mit „Tod in Venedig“ Thema sein. Da kann man auch schon einmal eine Aversion gegen Deutschland hegen.
Was der konservative Deutsche eher mitnehmen kann: Wie Meloni die Jugendfront so umstrukturierte, dass sie nicht aus bloßen Parias bestand, sondern ein Faktor der italienischen Jugendkultur wurde. Etwa durch das Jugendfest „Atréju“, bei dem die rechten Organisatoren Wert darauf legten, Sprecher und Gäste aus allen Lagern einzuladen. Dazu gehörte auch, das Publikum zu lenken: Keine Pfiffe, keine Buhrufe gegen den politischen Rivalen. Meloni hielt ihre ideologisch gefärbten Jungs zusammen, um salonfähiger zu werden – ohne ihre Werte aufzugeben, sondern um gesellschaftliches Gewicht zu erlangen.
Insbesondere im letzten Drittel spricht eine „andere Meloni“, die sich weniger mit Gefühlen oder popkulturellen Referenzen beschäftigt, sondern ihre Position verortet. Bemerkenswert ist die Aussage, dass ihre Familie mütterlicherseits traditionell tickte, sie ihre Freiheit aber exakt in diesem rechten Milieu verortete. Denn anders als viele Zeitgenossen sieht Meloni die Dichotomie „Rechts-Links“ nicht als überholt an.
Rechts, das ist für Meloni alles, was Identität bewahrt und schützt: Ob als Mutter, als Christin, als Italienerin oder Europäerin. Links, das ist alles, was die Identität zugunsten einer uniformen Masse auflösen will. Rechts, das ist das, was dem Individuum die Freiheit gibt, sich zu entfalten; links dagegen herrscht Bevormundung, Konformismus und Denkverbot.
Das mag für einige Ohren paradox klingen, insbesondere die der 68er-Generation. In Wirklichkeit sind dies Beschreibungen des „Rechts-Seins“, wie sie schon Erik von Kuehnelt-Leddihn postuliert hat. Als philosophischen Anwalt nennt sie Sir Roger Scruton.
Dass das Buch in vielerlei Hinsicht ein Manifest und ein Dank an zahlreiche Weggefährten darstellt – verfasst anlässlich des zehnjährigen Bestehens der „Fratelli d’Italia“ –, tritt immer wieder deutlich zutage. Für den deutschen Leser jedoch, der mit den Zerreißproben der italienischen Rechten und ihren Protagonisten nicht vertraut ist, bleiben viele Anspielungen unverständlich: Weder ist klar, wer gemeint ist, noch was gemeint ist. Was für den Beobachter italienischer Tagespolitik erhellend ist, wird den Unkundigen nur achselzuckend zurücklassen. Wer nicht weiß, wer Gianfranco Fini ist, wird das Urteil Melonis über den einstigen Gönner und AN-Chef nicht verstehen – und damit auch nicht, welche Lehren Meloni aus dessen Versagen für ihren eigenen Politikstil zieht.
Hier hätte der deutsche Herausgeber vielleicht mehr auf die Erfordernisse achten können, insbesondere, indem ein rudimentärer Anmerkungsapparat mit Fußnoten wenigstens einige Details hätte nennen können. Bedauerlicherweise gilt Ähnliches für das Redigat: Abgesehen von einigen Fehlern, die in jeder Übersetzung vorkommen können, gerät der Duktus in vielen Bereichen zu wörtlich. Was in italienischen Tagesmedien noch durchgehen kann, gerät aufgrund der direkten Übersetzung italienischer Wendungen im Deutschen stark ins Plauderhafte.
Lernt man nun die „nackte“ Meloni in dem Buch kennen? Schwierige Frage. Dafür hält die Biografie eine viel wichtigere Antwort bereit: Nämlich, wer Giorgia Meloni definitiv nicht ist. Wenn in jüngerer Zeit von rechten Meloni-Kritikern angemahnt wurde, dass sie Angela Merkel ähnele, muss man dem entgegenhalten: Frau Meloni ist die Anti-Merkel.
Wir lesen sehr klar, was sie in ihrer Vergangenheit gemacht hat. Während Merkel beim Mauerfall in der Sauna saß, feierte Melonis rechtsradikale Jugendgang den Untergang des Ostblocks und stimmte „Avanti ragazzi di Buda“ in Erinnerung an den ungarischen Volksaufstand von 1956 an – ein Song, der noch 30 Jahre später Viktor Orbán rührte. Während Merkel bei SPD und CDU anklopfte, um sich anzuhören, was beide ihr zu bieten hatten, ging Meloni aus Überzeugung zu den Aussätzigen des MSI. Während Merkel durch ihre Karriere hindurch den Weg des geringsten Widerstandes ging, hat Meloni mindestens einmal ihre gesamte politische Karriere aufs Spiel gesetzt, als sie mit Berlusconi brach, und mit den neugegründeten „Fratelli“ weniger als 2 Prozent bei den Wahlen erreichte.
Nur eines hat sie mit der Kanzlerin aus der DDR gemeinsam: Jeder hat sie von Anfang an unterschätzt.
Giorgia Meloni, Ich bin Giorgia. Meine Wurzeln, meine Vorstellungen. Europa Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 384 Seiten, 26,00 €.
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Mit Merkel verglichen zu werden ist immer beleidigend. Sie hat unserem Land unendlich geschadet.
Das mit dem „Identitären“ ist den Deutschen eigentlich fremd. Dem deutschen ist ein Teil von Ganzen zu sein wesentlich wichtiger. Wie Oswald Spengler in seinem Buch Preußentum und Sozialismus es treffend beschrieb. Also Links Sozialismus oder Rechts Sozialismus. Auf alle Fälle muss eine Ideologie von einer Gemeinschaft darin enthalten sein. Das zieht sich hier durch die Jahrhunderte. Ein individuelles Identitären Denken Melonis wird man hier meines Erachtens schwerlich finden. Oder man stelle sich die Frage welche existierende Partei in Deutschland ließe Identitären Denken zu.
Finde, dass der Name Oriana Fallaci viel zu wenig genannt wird. Eine feurige italienische Vollblutjournalistin, die die Dinge beim Namen nannte, als sich der Rest noch debil in der Nase gebohrt hat. Lest ihre Bücher! Sie hat vor Jahrzehnten schon alles gesagt. Von den Herrschenden wollte es schon damals niemand hören. Meloni ist im Vergleich mit Fallaci nur ein flackerndes Flämmchen.
Naja, reden wir nicht drumrum, das ist schon ein Teufelchen. Schwer zu widerstehn.
Italien hat eine Giorgia Meloni, Ungarn einen Victor Orban, Holland einen Geert Wilders, die USA einen Donald Trump. Und Deutschland? Einen Friedrich April-April.
Ja, ist wirklich peinlich wie Deutschland da absinkt.
Ich nehme in den letzten Wochen zunehmend wahr, wie Tichys Lesermichels die Nase rümpfen, über Meloni, über Trump, über die Rechten in Polen…
Von wem, meine Lieben, lassen Sie sich denn seit 20 Jahren regieren? Sind Sie sicher, dass Kritik an ausländischen Regierungen, von denen wir nur träumen können, angebracht ist, solange es in Deutschland immer nur „weiter so“ gibt?
Einfach erst mal die eigenen Hausaufgaben – und so lange froh sein, dass wenigstens Italiener, Amis, Polen, Ungarn und andere wagen, wozu der Michel immer noch zu feige ist.
Naja. Ich find Meloni echt gut – mit großem Abstand besser als alles, was Deutschland außer der AfD die letzten 20 Jahre zu bieten hatte – aber mal ehrlich: Diese blöde, inflationäre Selbstvermarktungsmasche „Autobiographie“ gibt einen Minuspunkt. Jeder weiß, dass kein aktiver Politiker nebenher noch ein Buch schreiben kann, sondern dass jemand anderes es schreibt und im.Grunde nur den Namen verwenden darf. Dass auch Meloni diese fadenscheinige Tour mitmacht, enttäuscht mich ein wenig. Es ist so billig. Aber gut, die stupide Masse liebt nunmal den Schein, den Trug, die Illusion mehr als das Echte und Authentische.
Für die meisten Bücher von Politikern trifft ihre Abneigung zu, entsprechend uninteressant und gestanzt sind die dann auch. Das Buch von Meloni habe ich vor zwei Jahren im Original gelesen und es war völlig klar dass dieses Buch nicht von irgendeinem Ghostwriter geschrieben worden sein kann. Es ist persönlich, wie auch aus der Besprechung von Gallina hervorgeht.
Und auch die politischen Passagen wurzeln in der Biografie Melonis.
Viele in Deutschland sind von Meloni enttäuscht, die AFD warnt sogar vor einer „Melonisierung“. Nun, diese Meinung kann man vertreten, aber ich finde sie falsch. Seit 1968 ist Westeuropa ungefähr 55 Jahre von rechts zu weit draußen nach links gewandert und viel zu weit nach links gedriftet. Die Rückkehr zur Mitte ( wie ca.1985 unter Thatcher oder Kohl) wird vermutlich nicht erneut 40 Jahre dauern, aber in einer Legislaturperiode klappt das nicht. Meloni versucht, ihr Volk in Trippelschritten mitzunehmen, und bis jetzt behält sie das Vertrauen. Hauruck funktioniert nicht immer und überall.
Richtig!
Das allerletzte, was ich lesen würde, wären die Memoraren irgendeines Politikers.
Frauen in der Politik, überzeugen mich eher nicht oder vom Gegenteil.
Salvina wäre wohl der Bessere gewesen, was Ergebnisse angeht?
Von wem werden Sie denn regiert, im Moment? Von einem Salvini aus dem Sauerland?